Kämpferin für das Glück

Der perfekte Augenblick. Viele Möglichkeiten, um eine passende Definition für diese Worte zu finden. Zu Viele. Langsam fahre ich die Buchstaben, einen nach dem anderem mit dem Zeigefinger nach. P, E, R, ich verbinde sie miteinander, aber sie bleiben weiterhin unklar F, E, K, T. Alle sind am schreiben, von perfekten Familienausflügen, Urlauben, dem neuen Haus mit einem neuen schönen Zimmer oder das tolle neue Haustier, welches jetzt zur Familie gehört. Ich weiß nicht, was ich schreiben kann. In meinem Kopf waren bis vor Kurzem nur traurige Gedanken.

Vielleicht sollte ich darüber schreiben, dass es mir jetzt besser geht, aber das ist nichts Richtiges, das sagen die Anderen zumindest immer. Einmal wurde ich gefragt, was ich am Wochenende gemacht habe. Als ich erzählt habe, dass mein Vater und ich endlich in eine kleine Wohnung gezogen sind, haben sich die anderen nur komisch angeschaut. Als ich aus der Schule kam, habe ich geweint, seitdem habe ich keine Lust mehr etwas mit den Anderen zu machen. Da ist wieder dieses Gefühl in mir, es brodelt in meinen Adern und fühlt sich an, als ob ich keine Luft mehr bekommen würde. Die Anderen kennen mich gar nicht richtig, aber erlauben sich urteilen zu dürfen, nur weil ich nicht mit meiner Familie in einem großem Haus wohne, anders spreche und anders aussehe.

Die Leute, die mich verstanden haben und immer für mich da waren, sind noch in Kabul, in Afghanistan. Aber da dürfen sie nicht mehr weg, weil die Taliban an der Macht sind. "Edith?“ Meine Lehrerin schaut mich besorgt an, „ für den Test hast du noch 10 Minuten Zeit.“ Ich blicke auf das Blatt Papier zurück mit einer Deutsch Schreibaufgabe, die von mir verlangt, irgendetwas sinnvolles zu einem perfektem Augenblick zu formulieren.

Ich kann noch nicht so lange Deutsch. Ursprünglich sollte ich zwei Jahrgänge unter dem sein, den man mit meinem Alter eigentlich besucht, damit ich zuerst Deutsch lernen kann, aber als sich herausstellte, wie gut ich die Sprache beherrsche, wurde ich in die 6. Klasse versetzt. Das ist mittlerweile 4 Jahre her. 3 Jahre hat es auch gebraucht, um unseren Asylantrag zu bestätigen, sodass wir vom Flüchtlingslager in eine eigene kleine Wohnung ziehen konnten, das war ein perfekter Augenblick.

Trotzdem vermisse ich meine Nana, meinen Onkel und meine kleine Schwester.

Ich bin damals wegen des Krieges in Afghanistan mit meinem Vater geflohen, die Anderen wollten nachkommen, haben es aber nie geschafft. Ich war neun, als meine Eltern diese Entscheidung trafen. In der Nacht vorher wurden wir von einer Granate, die im Haus gegenüber explodiert ist, geweckt. Ich habe mich erschrocken, ich wusste nicht was passiert ist. Wir konnten nicht alle zusammen fliehen, und da wir wussten, dass die Taliban eine große Macht waren, mussten sich die beiden Männer in der Familie aufteilen, um das Land verlassen zu können. Weil meine kleine Schwester bei Nana bleiben musste, musste ich mit meinem Baba vor. Das wir es über die Grenze schafften, war ein perfekter Augenblick.

Meine zurückgebliebene Familie muss jetzt mit den Regeln der Taliban zurechtkommen. Baba hat mir einige vorgelesen: singen und tanzen ist verboten, Kartenspiele, Schach, Glücksspiele und Drachen-Steigen- lassen ist verboten. Bücher zu schreiben, Filme anzusehen und Bilder zu malen ist verboten. Überführten Dieben wird die Hand am Handgelenk abgetrennt. Frauen dürfen sich nur im Haus aufhalten, der Ausgang ist nur in Begleitung eines mahram- eines männlichen Angehörigen- gestattet. Sie müssen eine Burka tragen, damit man weder ihr Gesicht noch ihren Körper erkennen kann. Frauen dürfen nur sprechen, wenn sie dazu aufgefordert werden. Sie dürfen die Schule nicht besuchen. Das waren nur wenige der Regeln, denen meine Familie ausgesetzt ist. Meine kleine Schwester Amana hat, solange sie noch in Afghanistan ist, kein Recht auf Bildung. Ich darf in die Schule gehen und dafür bin ich dankbar, ich liebe es, Wissen zu erlangen. Warum dürfen andere Frauen das nicht? Als ich im Flüchtlingslager ankam, war eines der ersten Dinge, mein Schulbesuch, nicht alle hatten hier in Deutschland die nötigen Umstände, um das zu können. Ich hatte das Glück. Das war einer meiner perfekten Augenblicke.

Wenn ich über meine Flucht nachdenke, zieht sich mein Magen zusammen. Es war grausam. Wir sind geflohen, als der Krieg zwischen den USA und den Taliban stattfand. Ich weiß nicht viel darüber, ich konnte weder lesen noch schreiben, um mitzubekommen, was genau vorging, ich war zu klein. Aber mein Onkel hat es mir berichtet, als erneut ein Luftangriff auf Kabul stattfand. Er hat mir erzählt, dass es einen Mann mit dem Namen Osama Bin Laden gab, der gegen den Westen vorgehen wollte. Als in Amerika der schwere Angriff auf das World Trade Center verübt wurde, wurde verlangt, ihn auszuliefern. Die Taliban haben sich geweigert und darauf sei es zum Krieg gekommen. Ich verstehe das nicht so richtig, aber wer tut das schon? Der Krieg ging von 2001 bis 2021, die US-Truppen sind bedingungslos abgezogen. Ich kenne keine Zeit, in der Frieden war. Nana hat oft geweint und gesagt, dass seit Jahren ihre geliebte Stadt stirbt. Immer weiter. Stück für Stück. Ich habe Nana sehr lieb, ich träume oft davon sie irgendwann wiederzusehen.

Als wir in der Nacht aufgebrochen sind, habe ich nicht verstanden, warum meine Mutter nicht mitgekommen ist, ich habe die ganze Zeit geweint. Baba hat versucht, mich zu beruhigen und mir immer wieder zugeflüstert, dass wir leise sein müssen. Ich habe erst später verstanden, warum. Während meiner Flucht sind wir lange Strecken zu Fuß gegangen, oftmals konnte ich nicht mehr und Baba musste mich tragen. Er hat mich immer getragen und hat nie gesagt, ob er selbst noch kann. Ich glaube, er war durchgehend erschöpft. Es waren immer perfekte Augenblicke, als diese Strecken überwunden waren.

Mein Baba ist ein Kämpfer. Er wusste genau, es würde gefährlich werden, als er den Plan hatte, über das Meer zu flüchten. Wir mussten einen Tag lang mit anderen Flüchtlingen am Ufer warten, bis zwei Männer mit einem Motorboot gekommen sind. Sie haben uns gesagt, wir müssen leise sein und sofort aufbrechen. Wir waren auch nachts auf dem Meer unterwegs. Das Boot hat durchgehend geschaukelt, es gab aufragende Wellen, die von Regen begleitet wurden. Es kam eine so hohe Welle, dass mein Vater und ein anderer Mann, welche am Rand saßen, weil das Boot zu voll war, ins Meer fielen. In diesem Moment habe ich geschrien, ich hab um mich geschlagen und zu den Frauen, die mich festhielten, gesagt, dass sie mich zu ihm lassen sollen. Sich haben nicht auf mich gehört. Wenn ich jetzt an die Situation zurückdenke, steigen mir wieder Tränen in die Augen. Aber auch das hat Baba geschafft. Es war ein perfekter Augenblick, als der andere Mann, der gut schwimmen konnte, mit meinem Vater auftauchte und Beide sich zurück aufs Boot hievten. Es war ein perfekter Augenblick, als wir Ufer am Rand der tosenden Wellen sichteten. Ich war dankbar für diese Wunder.

Wir mussten heimlich Übergänge passieren, wobei es ein perfekter Augenblick war, als wir es schafften rüber zu kommen, ohne von den gruselig aussehenden Männern mit Waffen bemerkt zu werden. Ähnlich wie mit der Situation in einem Laster, als wir eng an eng standen, ohne zu wissen, wie lange wir noch Luft bekommen würden. Es war ein perfekter Augenblick, als ich Baba danach in die Arme schließen konnte. All diese Augenblicke fühlte ich Dankbarkeit für diese Wunder. Diesen perfekten Augenblicken habe ich mein Leben zu verdanken.

Ich starre auf die leeren Zeilen vor mir, die mir mit einem mal als etwas Größeres erscheinen. Sie haben Platz für Worte, Worte, die gesagt werden müssen, Worte, die sonst in meiner Kehle ersticken. Ich nehme das Geräusch von Stiften, die über das Papier streifen war. Jeder hat perfekte Augenblicke, jeder formuliert sie anders. Was für mich perfekt ist, ist nicht falsch. Langsam bahnt sich ein Gedanke an, er wird immer größer, es scheint, als wolle er Platz auf meinem Blatt finden. Der perfekte Augenblick ist jetzt. Ich kann diese Aufgabe nutzen mit meiner Stimme. Ich kann meine Geschichte erzählen, um Anderen, denen es ähnlich ergeht, zu helfen. Ich kann die Welt auf mich aufmerksam machen. Es ist ein erster Schritt für mich, doch tausend weitere Schritte für Afghanistan, tausend weitere Schritte für Nana, Amana und meinen Onkel, tausend weitere Schritte für die Welt. Alles was zählt, ist dieser Augenblick und dafür stehe ich mit meinem Namen. Ich bin Edith- Kämpferin für das Glück. Es ist an der Zeit, meinen perfekten Augenblick zu nutzen.

Finja Handelmann, 10a